Vitamin-D-Versorgung bei Kindern und Jugendlichen in der Schweiz

Interview mit Professor Christian Braegger, Kinderspital Zürich
VITAMIN D2/09 12

Vitamin D fördert in seiner klassischen Rolle die Knochengesundheit bei Kindern, Adoleszenten und Erwachsenen und verhindert Frakturen und Stürze bei älteren Menschen. Neuere Studien bei Kindern und älteren Personen verweisen zudem auf die Rolle von Vitamin D beim Aufbau und der Funktionsfähigkeit der Muskulatur. Während die Unterversorgung mit Vitamin D in der älteren Bevölkerung inzwischen bekannt und wenn auch noch ungelöst ist, so doch zunehmend angegangenwird, zeigen neuste Untersuchungen, dass suboptimale Vitamin-D-Spiegel auch bei Kindern
weitverbreitet sind.  Die American Academy of Pediatrics (AAP) hat im Oktober 2008 die Empfehlung für die Vitamin-D-Substitution bei Kindern von täglich 200 IU auf 400 IU angehoben.

Wir befragten den pädiatrischen Gastroenterologen Professor Christian Braegger, Kinderspital Zürich (Universitäts-Kinderkliniken), zur Situation in der Schweiz.

CB: Unter den Fällen von schwerer Rachitis, die wir in den letzten Jahrzehnten im Kinderspital noch gesehen haben, waren einige Mädchen, die zum Beispiel aus religiösen Gründen in lange Kleider gehüllt und nicht der Sonne ausgesetzt wurden. Das kann ich bestätigen:

Kann man aus den seltenen Rachitisfällen schliessen, dass die empfohlene Vitamin-D-Prophylaxe für Säuglinge im ersten Lebensjahr eingehalten wird? 


CB: Das würde ich nicht unbedingt sagen, denn wir wissen nicht, wie konsequent die Eltern unsere prophylaktischen odertherapeutischen Empfehlungen einhalten. Im Fall von Vitamin D gibt es durchaus Hinweise darauf, dass die Prophy laxeempfehlungen nicht flächendeckendumgesetzt werden. So sind die wenigen Tetaniefälle, die wir gesehen haben, vorallem in den Wintermonaten aufgetreten und in der Regel bei Säuglingen, die keine Vitamin-D-Substitution erhalten haben. Sicher ist, dass sich solche Fälle von Vitamin-D-Mangel durch konsequente Einhaltung der Substitutionsempfehlung imersten Lebensjahr zuverlässig verhindern lassen.

Gemäss den Richtlinien der AmericanAcademy of Pediatrics (AAP) soll die Vitamin-
D-Substitution, die übrigens im Oktober 2008 von 200 IU auf 400 IU pro Tag
angehoben wurde, nicht nur im ersten Lebensjahr,
sondern bis über die Adoleszenz hinaus gegeben werden
Könnte es sinnvoll sein, dies auch bei uns einzu führen?
 

CB: Die Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) hat letztes Jahr neue Empfehlungenfür die Säuglingsernährung publiziert
Dort wird explizit empfohlen, dass alle Säuglinge eine Substitution von
täglich 300 bis 500 IE Vitamin D erhalten sollen, und zwar unabhängig von Jahreszeit
und Sonnenexposition. Dabei soll eine maximale Zufuhr von 1000 IE pro Tag
nicht überschritten werden, was der von der EFSA empfohlenen tolerierbaren
Höchstaufnahmemenge (tolerable upper intake level) im ersten Lebensjahr entspricht.

Was die Weiterführung dieser Prophylaxe über das erste Lebensjahr hinaus betrifft, gibt es in Europa meines Wissens noch keine generelle Empfehlung. In der Ernährungs-kommission der in der entsprechenden Publikation der AAP wird auf die Evidenz klinischer Studien verwiesen, die neue Erkenntnisse zur Rolle von Vitamin D in der Prävention von Erkrankungen (z.B. Diabetes) und in der Immunantwort gebracht hätten.

Könnte man sich unter diesen Umständen nicht vorstellen, dass eine längere Substitution Vorteile hat?

CB: Ich glaube nicht, dass eine längerfristige Substitution von Vitamin D mit absehbaren Nachteilen oder Risiken verbunden ist. Um zubeurteilen, ob sie tatsächlich die erwarteten Vorteile bringen wird, müsste meiner Ansicht nach die vorliegende Evidenz der klinischen Daten, insbesondere bei Kindern,genau geprüft werden. Erst dann
können fundierte Empfehlungen gemacht werden. Gut belegt ist dagegen
der Nutzen der Vitamin-D-Substitution im ersten Lebensjahr – hier gibt es keine
Zweifel. Das wäre gut möglich.

Sehen Sie mögliche Risiken für eine Unterversorgung mit Vitamin D bei Kindern?

Kinder, die an der frischen Luft spielen
und sich bewegen, sind hier sicher weniger
gefährdet als solche, die vorwiegend
im Haus sind und am Computer sitzen?
Gründen ungünstig, insbesondere
auch für das Körpergewicht der Kinder,
das uns zunehmend Sorgen bereitet. Dazu
kommt, dass bereits einige Untersuchungen
gezeigt haben, dass adipöse
Kinder und Erwachsene im Vergleich zu
normalgewichtigen einen tieferen Vitamin-
D-Spiegel aufweisen. Wie der Zusammenhang
zwischen Body-Mass-In dex
und Vitamin-D-Spiegel genau reguliert ist,
wissen wir noch nicht im Detail. Ungünstige
Ernährungsgewohnheiten und ungenügende
Sonnenlichtexposition könn ten
durchaus eine Rolle spielen. Es ist zudem
bekannt, dass Vitamin D eine Rolle spielt
als Co-Faktor für die Insulinsekretion. Ein
Vitamin-D-Mangel könnte deshalb die
Glukosetoleranz reduzieren, die Insulinresistenz
fördern und damit das Risiko für
einen Typ-2-Diabetes erhöhen. Gerade
adipöse Kinder sollten sich unbedingt
viel an der frischen Luft bewegen – nicht
nur, um ihr Körpergewicht zu normali -
sieren, sondern auch, weil ihr Körper an
der Sonne die Gelegenheit hat, genügend
Vitamin D zu produzieren, das sie
brauchen, um ihren Stoffwechsel zu unterstützen.
Natürliche Nahrungsquellen für eine ausreichende
Vitamin-D-Versorgung mit beispielsweise
400 IE pro Tag zu finden, ist ja
wirklich nicht einfach.

Viele Kinder essen
oft ungern Fisch, nicht alle mögen Milch
oder Milchprodukte. Was tun?

Das kann tatsächlich schwierig sein; Nur zu Hause sitzen ist aus verschiedenen Gründen nicht empfehlenswert und so gesehen ist es sicher einfacher, regelmässig
– und mit der gebotenen Vorsicht,
was die Dauer betrifft – die Nase kurz an
die Sonne zu strecken.

Besten Dank für das Gespräch.Das Interview führte Dr. Claudia ReinkeReferenzen:– Carol L. Wagner, MD, Frank R. Greer, MD and the

Section on Breastfeeding and Committee on Nutrition;
Prevention of Rickets and Vitamin D Deficiency in Infants,
Children, and Adolescents. PEDIATRICS Vol. 122
No. 5, November 2008, 1142–1152 (doi:10.1542/peds.
2008–1862).
– Baehler P, Baenziger O, Belli D, Braegger C, Délèze
G, Furlano R, Laimbacher J, Roulet M, Spalinger J,
Studer P. Empfehlungen für die Säuglingsernährung
2008. SMF 2008; 8: 366–369 und Paediatrica 2008; 19:
19–24.